„Mir ist sooo langweiliiiig“
Bei diesem Satz verfallen Eltern oft in hektische Ablenkungsmanöver und ungewollte Aktivitäten. Doch wie kommt es, dass Langeweile etwas ist, das man nicht haben möchte? Oder gibt es auch gute Seiten der Langeweile? Und warum ist es so schwer für Kinder wie Eltern, Langeweile auszuhalten? liesLotte ist diesen Fragen auf den Grund gegangen und wollte wissen, wie man am besten mit Langeweile umgeht. Silke Meyer-Ries, Coach und Familientherapeutin, hat sich mit liesLotte unterhalten.
Was ist Langeweile und woher kommt sie?
Zeit als Langeweile zu bezeichnen ist eine Bewertung. Man könnte auch neutral sagen: Ich habe so viel freie Zeit. Wir haben also gelernt, Zeit, in der wir nichts zu tun haben, als Langeweile zu bezeichnen. Dabei hat der Mensch eine angeborene Wertschätzung gegenüber freier Zeit. Es liegt also an der Erziehung, auch jener der Elterngeneration. Denn diese ist wie unsere Gesellschaft geprägt und definiert durch ständiges Tun. Wer nichts zu tun hat, ist faul, denn es gibt immer etwas zu tun. In vorhergehenden Generationen, die durch Krieg, Wiederaufbau, existenzielles „Tunmüssen“ geprägt waren, war oder ist Langeweile ein Luxusgut, das man sich nicht leisten konnte. „Dir geht’s wohl zu gut!“ Diesen Spruch kennen wir alle.
Warum empfinden Kinder Langeweile als unangenehm?
Langeweile ist kein positiver Begriff, es ist vielmehr eine negative Bewertung der Situation, in der sie sich gerade befinden. Daher möchten Kinder natürlich raus aus diesem Zustand. Es ist ein Zustand der Leere, der in unserer westlichen Kultur als bedrohlich gilt. In östlichen Ländern ist es
ein Streben danach – dort möchte man das Nirvana erreichen. Wir mit unserer Kultur des Tuns sind Leere nicht gewohnt, es ist uns fremd und vielleicht auch unheimlich, gerade weil wir dadurch in Kontakt mit uns selbst treten. Und Eltern vermitteln das ihren Kindern, auch unbewusst.
Was passiert, wenn die Langeweile zugelassen wird?
Eigentlich nichts anderes, als dass ein Zustand von Ruhe und Nichtstun eintritt. Man tritt in Kontakt mit sich selbst, denkt vielleicht über sich und die Welt nach. Man hält inne, hört in sich hinein. Das ist etwas Neues für die meisten – Kinder wie Erwachsene. Und daher kann das ganz schön unangenehm sein!
Soll man Kinder von ihrer Langeweile denn ablenken?
Hier finde ich die Montessori-Ausrichtung „Ich helfe dir, es selbst zu tun“ nicht schlecht. Man kann ein Angebot machen, aber man sollte offen lassen, ob es angenommen wird. Es geht nicht darum, die Zeit füllen zu müssen. Vor allem nicht, weil Eltern oft selbst nicht mit Langeweile umgehen können.
Wie geht man am besten mit Langeweile um?
Es ist zunächst die Sichtweise, mit der man an die Sache geht. Ist Langeweile etwas Schlechtes oder beginnt hier die hohe Kunst der Meditation? Nutzt man sie, um innezuhalten, in sich hineinzuhören und die Ruhe zu erleben, die man sich eigentlich wünscht? Ich denke, in unserer Gesellschaft findet da gerade eine Umdeutung statt. Das ständige Tun funktioniert nicht mehr, Stress ist nicht mehr schick. Stattdessen geht es um Achtsamkeit, sogar in der Wirtschaft, wo es inzwischen Meditationskurse oder Achtsamkeitsseminare gibt. Ich habe auch das Gefühl, dass es nicht mehr ein Statussymbol ist, die Terminpläne der Kinder bis an den Rand vollzumachen mit
Englischkursen, Sport und sonstigen Angeboten.
Aber was tut man, wenn das Kind sagt „Mir ist so langweilig“?
Da stellt sich zunächst die Frage, ob es sich dabei einfach um eine pure Information handelt oder ob das Kind eine bestimmte Erwartung damit verknüpft. Das wäre also das Erste, was man klären sollte: „Was möchtest du damit sagen?“ Steckt überhaupt eine Bitte in dieser Aussage? Und welche? „Was brauchst du?“ Kinder können auch schon in jungem Alter sehr genau sagen, was sie brauchen, wenn man mit ihnen darüber spricht. Vielleicht ist es auch ratsam, die Kinder mit „Gleich, ich brauch noch einen Moment“ zu vertrösten und nicht sofort darauf einzusteigen. Das müssen Eltern einfach auch mal aushalten und nicht gleich reagieren. Kinder brauchen auch eine Chance, selbst etwas zu entwickeln und kreativ zu sein, und nicht nur Angebote der Eltern.
Dann sollte man das Langeweilegequengel einfach ignorieren?
Nein, auf keinen Fall. Denn oft steckt ein anderes Bedürfnis dahinter. Es ist gut, den Kindern Kontakt anzubieten und sie nicht alleine zu lassen: „Schau, was gerade in dir passiert. Hör in dich rein.“ Es ist spannend zu sehen, was Kinder dazu sagen. Vielleicht macht man ein kleines Experiment daraus: Was passiert noch alles, wenn man sich einfach mal ein, zwei, vielleicht sogar drei Stunden hinsetzt und nichts tut? „Ich schaue auch, was bei mir passiert!“ Ein Grundsatz sollte sein, gemeinschaftlich durch solche Themen zu gehen und diese zusammen zu bearbeiten. Kinder wollen philosophieren. Das tut nicht nur den Kindern gut. Man könnte zum Beispiel einen Familienabend zum Thema Langeweile machen, an dem alle Familienmitglieder über dieses Thema sprechen. So entwickelt man eine schöne Kommunikationskultur in der Familie. Denn Kinder möchten nicht, dass die Eltern nur als „Besserwisser“ daherkommen. Und auch Eltern können dabei viel lernen!
Also sollten Eltern auch wieder lernen, mit Langeweile – oder besser gesagt Ruhe – umzugehen?
Ja, denn die meisten Menschen hören nicht hin, um was es eigentlich geht, wenn wir über Langeweile klagen. Und seien wir doch mal ehrlich: Bei welchem anderen Satz unserer Kinder erfolgt eine schnellere Reaktion? Die Kleinen spüren sehr schnell, dass sie damit Aufmerksamkeit und Angebote bekommen. Dabei entsteht Kreativität eher aus dem Innehalten, Ideen können in der Ruhe gedeihen. „Nutze die Ruhe, spüre, was sich in dir regt, hör hin!“ Das ist etwas, was Eltern ihren Kindern sagen können, anstatt ihnen Anregungen in Form von Ablenkung anzubieten. Und vielleicht auch sich selbst.
Ist eine neue Sicht auf Langeweile nötig?
Das muss jeder für sich entscheiden, ob er eine Umbewertung oder Neubewertung zulässt. Und doch muss man Werte immer neu austarieren, vor allem familienintern. Was ist unsere Kultur in nserer Familie? Wie gehen wir mit Langeweile um? Definiert man Langeweile für sich selbst neu als eine Art Kunst, kann man ruhige Zeit guten Gewissens in seinen Alltag einbauen – als Wertschätzung gegenüber sich selbst. Und dann darf man seinen Kindern gegenüber auch mal
ehrlich und ernst gemeint sagen: „Wow! Wie hast du das geschafft?“
Info: SILKE MEYER-RIES
Silke Meyer-Ries ist Diplom-Sozialpädagogin
und seit fast 30 Jahren im Kinder-und Jugendhilfebereich
für verschiedene Jugendämter tätig.
Zudem hat sie seit 15 Jahren eine eigene Praxis als systemische Familientherapeutin und Coach. Sie hat zwei inzwischen erwachsene Töchter.
www.meyer-ries.de